Von der Lesebühne: Rummelplatz (Audio/Text)

Rummelplatz

Vorgelesen:

Neben dem Bierwagen das Zelt einer Wahrsagerin, neben der Wahrsagerin eine Boxbude. Und jetzt ist Stefan duhn und erinnert sich, dass er einst eine gute Figur gemacht hat, beim Schulsportboxen, in kontrollierter Umgebung zwar, aber doch mit dem Biss eines Stefans, der schon mit 14 Säcke geschleppt hat voller Kartoffeln in der Kartoffelscheune beim Ferienjob. Jörg und Torsten werden sich erinnern an diesen Biss, linke Gerade, rechter Haken, sauber aus der Deckung heraus, einmal Schläfe, einmal Solarplexus, und dann lagen sie da, erst der eine, dann der andere und der Sportlehrer sagte, Stefan, lass mal, kriegst auch so eine 1.

Stefan und Torsten und Jörg stehen am Bierwagen neben dem Wahrsagerinnenzelt neben der Boxbude, so wie sie früher an der ratternden Berg-und-Tal-Bahn gestanden hatten am Jägerweg, weil da die Mädchen so schön juchzten, wenn der Berg-und-Tal-Bahn-Mann leichtfüßig die Karten einsammelte – „Junger Mann zum Mitreisen gesucht“ – am Jägerweg, da wo heute die Wohnmobile parken und Torsten sagt, guck mal, ne Boxbude, sowas gabs früher nicht und Jörg sagt, na Stefan und Stefan fühlt sich gar nicht wie 45, sondern wieder wie 14 und noch ein Bier und eine Bratwurst und die Frau ist im Urlaub, den Rasenmäherroboter namens Günther Gras kann er später reparieren, die Kinder wissen selber, wo der Kühlschrank ist und damit wären die Aufgaben auf dem Aufgaben-Zettel an der Pinwand auch schon abgearbeitet, Boxbude, linke Gerade aus der Deckung heraus – wann wenn nicht jetzt.

Kennste den, sagt Jörg und erzählt einen Witz, der zu tun hat mit einem Hasen, der einen Job sucht, beim Arbeitsamt, dort abgewiesen wird, weil: Arbeitsamt… da gibt’s nur Jobs für Menschen. Dann aber kommt noch ein Zauberer ins Spiel, der einen Hasen sucht für aus dem Zylinder zaubern und der Mann vom Arbeitsamt freut sich, weil: Hase – war ja eben da. Und Stefan verliert den Faden, den Spuckefaden, der ihm aus dem Mundwinkel hing eben noch und den er nicht wegwischen konnte, links Bier, rechts Zigarette, eine dritte Hand wäre super und dann denkt Stefan, er hätte damals nicht so hart zuhauen sollen, denn Jörg ist ja immer noch nicht wieder auf dem Damm, erzählt wirre Witze, dabei gehts doch eigentlich um ihn, um ihn, Stefan und um die Boxbude.

Ich geh da jetzt rein, sagt Stefan und dann geht er rein und dann riecht es, wie es früher in der Schulturnhalle gerochen hat, nach Schweiß und Leder und ungeputzten Klos und der Ring in der Boxbude ist klein und Stefan ist groß und sein Gegner ist klein und Stefan ist groß und die Angst ist klein und die Hoffnung groß, bejubelt zu werden von den Rummelplatzgestalten am Bierwagen, wenn nachher alles vorbei ist.

Torsten hingegen fühlt sich etwas unwohl. Erst zweimal ist er in dieser Geschichte vorgekommen, einmal als Opfer, einmal als Begleiter, und auch das Wahrsagerinnenzelt ist ja bisher nur erwähnt worden, was das wohl noch wird mit dieser Geschichte und mit Stefan und der Boxbude. Torsten hat BWL studiert, zwei Semester, bevor er seinem Traum gefolgt ist und Hundefriseur wurde und außerdem hat er eine Doku gesehen über eine Boxbude und deshalb weiß er, dass das Geschäftsmodell einer Boxbude damit zu tun hat, dass sich Leute wie Stefan wie 14 fühlen und nicht wie 45, dass das Publikum dafür zahlt, einen Aufschneider leiden zu sehen und am Ende immer ein Aufschneider-Stefan leidet, weil Marek und Juri, Anatol und Sergej ihr Handwerk beherrschen und weil: Bier.

Jörg erzählt den Witz zu Ende, ihm ist nicht aufgefallen, dass niemand mehr zuhört, weil: Stefan in der Boxbude und Torsten in Gedanken. Der Hase jedenfalls taucht nochmal auf, auf dem Arbeitsamt, will aber den Job beim Zauberer nicht – er ist Elektriker von Beruf. Also folgt Jörg Stefan – Torsten sagt, ich komm gleich nach, denn es zieht ihn an: das Wahrsagerinnenzelt, das damit endgültig angekommen ist in diesem beinahe atemlosen Monolog. 20 Euro kostet die Zukunft bei der Frau mit dem Turban und die Zukunft, die sie vorhersagt, die ist blutig, Füße, ich sehe Füße, Zehen, abgetrennt, Sehnen durchschnitten, gehäckselt die Haut, Geschrei und Leid und das Pfaffenteichwasser rot gefärbt und kein Johanniter, kein Malteser, kein Rotkreuzler kann mehr helfen, denn sieh, sagt die Wahrsagerin, deren Karten liegen nutzlos auf dem falschen Stapel.

Torsten denkt sich all dies als Metapher und an die Boxbude und an Stefan, der tatsächlich schon blutet aus der Nase, denn Marek, der Boxer, beherrscht sein Handwerk und Stefan ist nicht mehr 14 und wenn der Bauch hervorquillt aus der Deckung, ist da Trefferfläche genug, und das Fett kommt in Bewegung ob der wuchtigen Schläge und wenn Stefan das Fett schützen will, hat Marek immer noch einen Aufwärtshaken parat, Jörg jedenfalls fühlt sich gut unterhalten, denn Hochmut kommt vor dem Fall.

Die Gäste um den Ring johlen und spritzen Bier auf die Kämpfer und nur wenige bemerken die Schreie, die bereits seit einigen Minuten die Luft über dem Pfaffenteich füllen, und nur Torsten sieht die Fontäne aus dem Teich blutrot in die Höhe spritzen und nur Torsten bemerkt, dass auffällig viele halb kahl geschorene Hunde die Mecklenburgstraße auf- und abwinseln, kann aber auch nicht erkennen, geschweige denn glauben, dass ausgerechnet Stefans Rasenmäherroboter namens Günter Gras Grund und Ursache ist für das im Wahrsagerinnenzelt vergleichsweise präzise vorhergesagte Geschehen.

Hatte doch Günther Gras´Defekt eine Kettenreaktion ausgelöst, infolge derer die Mäh-Gefährten einem erdnahen Drohnenschwarm gleich aus den Vorortsiedlungen und deren Reihenhausgärten, aus den handtuchgroßen Rasenflächen der Stadthäuser, aus den hinter Kornelkirschenhecken versteckten Anwesen ausgebrochen waren, in einer Einigkeit, die nur künstliche Intelligenz zu formen in der Lage ist, und nun die Füße zerfetzen der Rummelplatzbesucher, Fell und Haut zerreißen der Hunde, die Tauben schreddern und sich nicht abhalten lassen, vom Treten und Stampfen der Menschen, die ja nun in Masse stolpern über diejenigen, die schon früh gefallen waren, durchtrennter Sehnen und abgesäbelter Zehen wegen und deren Blut sich schon sammelt, in Gullys und Rinnsteinen und schließlich von den Fischen im Ziegelsee als willkommene Eisenquelle durch die Kiemen gezogen wird.

Nur Stefan hat von all dem nichts mitbekommen. Von Marek in die vorübergehende Blindheit geprügelt, liegt er, ein Handtuch im Nacken, sicher im Ring, einen Meter über dem Fußboden, dort, wo selbst die aktivsten Rasenmäherroboter keine Gefahr sind für ihn, das Muskelgedächtnis lässt seine Arme zucken, als wäre da noch ein Kampf zu kämpfen, es zuckt auch Jörg in einer Masse von eben noch Umstehenden, dahingestreckt von rotierenden Klingen und jemand, der das Massaker mit nüchternem Blick betrachtet, könnte jetzt denken: „Hochmut kommt vor dem Fall, Jörg“.

Als der Spuk vorbei ist, dank eines Hasens übrigens, der als ausgebildeter Elektriker Fachkraft genug ist, um die KI der Roboter so zu überlisten, dass die Mördermäher schließlich allesamt in den Teich gelockt sind und dort nur noch dem einen oder anderen Graskarpfen Unheil zufügen können, jetzt erst jedenfalls macht sich auch Stefan tastend auf den Heimweg, um zuhause im Viertel der Steuerzahler, hinter Kornelkirschenhecken noch kurz vor dem Schlafengehen an Jörg und Torsten zu denken und daran, wie er sie einst auf die Bretter geschickt hatte, mit 14, linke Gerade, rechter Haken, sauber aus der Deckung heraus, einmal Schläfe, einmal Solarplexus.

1 thought on “Von der Lesebühne: Rummelplatz (Audio/Text)

  1. Travelling Jack says:

    Moin Thom*!

    Sehr schöner Text, trifft ganz meinen Geschmack, wo ich doch passionierter Stephen King Leser bin.

    Ich finde, Du solltest das wissen.

    Viele Grüße
    TJ.

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