Dass in mir Kleingärtner wohnen, Leute, die schimpfen, wenn andere Leute nicht blinken und die Ohren spitzen, wenn am Sonntag ein Rasenmäher läuft, das musste ich schweren Herzens akzeptieren. Es gilt, sie innerhalb der Kleingartensparte zu halten, im eingezäunten Bereich und immer, wenn sie brüllen zu prüfen, ob in ihrer Wut ein Funken Vernunft schimmert, oder ob eigene Unzufriedenheit macht, dass wir gemeinsam nörgeln und schimpfen, grummeln und gnatzen.
Und nun schimpft einer der Kleingärtner in mir mal wieder. Ich beobachte das seit einiger Zeit. Ausgerechnet mein auf Regeln fixierter Heckenpfleger hat sich aufwiegeln lassen, von denen, die sich mit Stadtplanung für Menschen beschäftigen, von Fahrradaktivisten und all den anderen, die in letzter Zeit immer vehementer die Vorherrschaft des Autos anprangern. Und je mehr ich zuhöre, umso mehr bin ich bereit zu sehen, dass es ja gar nicht gottgegeben ist, dass Fußwege schmal und Parkzonen breit, Bordsteine an Kreuzungen hoch und die Fahrbahnen für Autos glatt und eben sind. Und dass es für alle von Vorteil wäre, an diesem Ungleichgewicht etwas zu ändern.
Vieles ist offenbar saukompliziert. Welt retten, gerechte Verteilung der Ressourcen, Bildung. Dringend nötig. Läuft nicht. Inklusion – wie beschämend ist der Zustand derzeit, bitte? Und dennoch kriegen wir so wenig auf die Reihe. Doch hier ist endlich etwas, das ganz einfach zu machen wäre und an dem, so sehr ich auch grübele, kein Haken zu finden ist: Tempo 30 innerorts…
Es ist ungefähr zehn Jahre her, da habe ich einen Vortrag gehört, über Tempo 30 in der Innenstadt. Nicht als Ausnahme, sondern als generelle Regel. Am Ende stand eine ganze Reihe von Vorteilen: Weniger Tote, weniger schwere Unfälle, weniger Lärm, ein besserer Verkehrsfluss, ein besseres Miteinander von Autos, Fußgängern, Radfahrern… Günstige Auto-Alternativen, die derzeit mit 45km/h Maximalgeschwindigkeit ein Verkehrshindernis sind, werden gesellschaftsfähig… Der Vortrag sollte einen entscheidenden Eingriff in den Schweriner Straßenverkehr vorbereiten: Tempo 30 auf der Hauptverkehrsstraße durch die Stadt, Tempo 30 auf dem Obotritenring. Parallel sollte die Fahrbahn verengt werden – durch einen Fahrradschutzstreifen. Vor ungefähr zehn Jahren schon, wie gesagt.
Aber wie das so ist in der Kommunalpolitik: die Stadtvertreter haben Tempo 30 abgelehnt und geworden ist ein Fahrradschutzstreifen, den keiner nutzt, weil neben dem „Schutzstreifen“ in zwei Reihen die Autos sich drängen – mit Tempo 60.
Wer, wie ich, in großen Teilen sein Leben auf das Auto ausgerichtet hat, nölt natürlich im ersten Moment. Tempo 30… Puh… Arg langsam für ein Gefährt, das auch 200 fahren kann, erst recht in einer Infrastruktur, die mindestens 50km/h zulässt… Aber das ist ja ein echt blödes Argument. Die Fähigkeiten des Gefährts sind ja als Maßstab denkbar ungeeignet; nur weil mein Motorrad dazu in der Lage ist, auch Bürgersteige, Radwege und Spielplätze als Fahrbahnen zu nutzen, käme ja niemand auf die Idee genau das zu fordern. Und was die Infrastruktur betrifft: darum gehts ja gerade. Dass wir die menschenfreundlicher umgestalten könnten, wenn Tempo 30 innerorts die Regel wäre.
Hab ich auf Twitter gelesen: „Tempo 30 – da kann ich ja gleich mit dem Rad fahren… Du bist so kurz davor, es zu verstehen….“ Aber, es muss ja nicht das Rad sein…
Für mich ist der Vorteil des Autos nur auf der Langstrecke die Geschwindigkeit. Innerorts hab ich das Auto immer aus anderen Gründen benutzt: Ich mag es, mich nicht aufwändig unwettergerecht kleiden zu müssen, trocken und ungestört von der Außenwelt mich zu bewegen. Aber dafür brauche ich ja keine zwei Tonnen Stahl um mich herum. Wir erleben gerade eine ungeheure Vielfalt in der Entwicklung von Elektromobilen. Ich mag ja sehr den Twizzy von Renault, der geht, finde ich, echt in die richtige Richtung. Ist aber derzeit noch nicht interessant, weil er mit 45km/h in einer 50km/h-Welt ein Verkehrshindernis ist.
Ich treibe mich im Moment verstärkt in der Fahrrad-Blase herum. Eine zweite Midlife-Krise, vermuten die, die mich lieben. In der ersten ging es zurück in die Adoleszenz, in der das Moped und danach das Motorrad die erste große Freiheit brachten, jetzt, in der zweiten Phase, entdecke ich die Vorteile des Radfahrens neu. Als Student hatte ich schlicht nicht das Budget für ein Auto und in Berlin war Radfahren eh sinnvoller, ein guter Ausgleich zum Schreibtisch, zu Seminar- und Bibliotheksstühlen sowieso. Und, auch das muss der Ehrlichkeit halber gesagt sein, als ich aufhörte Rad zu fahren, wurde ich fett.
Für Radfahrer und dafür, dass es mehr werden, wäre Tempo 30 innerorts echt ein Segen.
Ich muss ein bisschen aufpassen, dass der Kleingärtner in mir nicht zu oft mitradelt, der fängt dann nämlich an, Autofahrer zu beschimpfen und hat sogar schon nach der Herstellung von Farbbeuteln gegoogelt. Mein Kleingärtner mag es, in einer Identität ganz aufzugehen und wenn ein neues Identitätsmerkmal „Fahrradfahrer“ lautet, dann rollt der Feind nunmal auf vier Rädern und der Kleingärtner fühlt sich moralisch überlegen. Da, wie gesagt, ist Vorsicht geboten. Denn darum gehts ja gar nicht, kein bisschen gehts um moralische Überhöhung, um „ich bin besser als Du“, das macht nur Zank und Streit.
Es geht vielmehr um die Idee, dass eine fahrradfreundliche Infrastruktur allen nützt: Tempo 30 macht die Stadt sicherer, abgesenkte Bordsteine freuen Menschen mit Rollatoren, mit Kinderwagen, mit E-Rollstühlen und selbst Fußgänger stolpern weniger. Radwege, die abgetrennt sind von Straßen und Fußwegen, mit eigenen Ampelschaltungen, ermöglichen es den Radfahrern schneller und sicherer von A nach B zu kommen, was wiederum mehr Leute aufs Rad lockt, die Folge: weniger Autos, noch weniger Lärm, Gestank, Flächenverbrauch. Im Land mit der bekanntermaßen besten Infrastruktur für Fahrradfahrer, in den Niederlanden, sind übrigens unglaublich viele Senioren mit vierrädrigen Elektromobilen unterwegs. Diese Rollstühle für Menschen, die nur auf weiten Wegen einen Rollstuhl brauchen. Ein gutes Indiz dafür, dass die These stimmt: Autoinfrastruktur nützt Autofahrern – Fahrradinfrastruktur nützt allen. Und: die Opfer, die Autofahrer, wie auch ich, dafür bringen müssen, sind gering. 20km/h weniger…
Eine weitere, veränderte Sichtweise erscheint mir plausibel: So, wie es jetzt ist, werden viele Leute zum eigenen Auto genötigt. Sie müssen also einen Teil ihres Einkommens fest für ein Auto und die Nebenkosten verplanen, eben weil sie keine adäquaten Alternativen haben. Tempo 30 innerorts könnte diese Alternativen befördern.
Das, was hier steht, hab ich alles nur irgendwo aufgeschnappt und ist geschrieben aus der Sicht eines Städters Aber es erscheint mir so schlüssig, dass ich gar nicht weiß, worauf die Gesetzgeber warten. Und wenn wir dann das Tempolimit schonmal anfassen, dann lasst uns doch gleich 80 auf den Landstraßen und 120 auf der Autobahn machen. Lohnt sich.
(Ob es gut ist, wenn mein Kleingärtner und ich, wenn wir uns derart annähern? Ich bleibe skeptisch. Aber eines stimmt schon: Gut an der Kleingartensparte ist – auf den Wegen gilt Schrittgeschwindigkeit, denn die sind für Menschen gemacht und geparkt wird draußen.)
Das hier, zum besseren Verständnis der Kleingarten-Metapher:
Das hier kennen Sie bestimmt, könnte ich immer und immer wieder gucken:
Hallo Thomas,
Guter Beitrag👍 Blue meisten aber auch sicher, dass es für eine Tempo 30 an Ordnung in der Stadt einer Widmung bedeutet. Dies liegt nicht nur in der Hand der Stadtvertretungen sondern muss von den Straßenbaulastträgern bzw. zuständigen Verkehrsbehörden genehmigt werden. Dafür braucht man viel Geduld und ein gutes Durchhaltevermögen. Mit der Zeit ändern sich auch die Beurteilungskriterien für diese Idee in den Verwaltungen. Bleibe mutig meine Unterstützung hast du.
Meine Lieblingsidee: ab in die Straßenverkehrsordnung damit. Und dann nur noch Ausnahmen gesondert ausweisen…